Die flüsternde Mauer
Im Herzen Berlins, nur wenige Schritte vom Brandenburger Tor entfernt, streifte die junge Reisende Lina an einem ruhigen Herbstmorgen durch die Stadt. Sie war zum ersten Mal in Deutschland und verfolgte eine Geschichte, die sie von ihrer Großmutter gehört hatte – über eine Mauer, die Geheimnisse flüsterte.
Die meisten Touristen strömten zur East Side Gallery oder zum Checkpoint Charlie, doch Lina folgte einer verblichenen Karte auf vergilbtem Papier. Sie führte sie zu einem kleinen, unmarkierten Abschnitt der alten Berliner Mauer, versteckt in einem Hinterhof hinter einer Bäckerei in Kreuzberg. Die Mauer war mit Efeu und Graffiti bedeckt, halb vergessen.
Sie legte ihre Hand auf den rauen Beton, und die Kälte schnitt ihr in die Haut. Dann hörte sie es ganz leise – ein Flüstern, wie Wind durch Blätter. Doch es war nicht der Wind. Es waren Stimmen. Leise, sich überlagernd, auf Deutsch und in anderen Sprachen. Geschichten von Flucht, Trennung, Liebe und Hoffnung. Ein Mädchen, das eine Freundin in ihrer Wohnung versteckte. Ein Soldat, der eine Familie passieren ließ. Ein gestohlener Kuss am Kontrollpunkt.
Lina stand eine Stunde lang da und lauschte. Nicht verängstigt, sondern demütig.
Als sie sich schließlich zum Gehen umdrehte, schaute eine alte Frau aus der Bäckerei heraus und lächelte wissend.
„Hast du sie gehört?“, fragte sie auf Deutsch.
Lina nickte.
„Gut“, sagte die Frau.
„Die Mauer erinnert sich. Jemand muss es ja.“
