Ende der 1980er Jahre bröckelte die Diktatur der DDR, doch die Staatssicherheit hielt weiter die Zügel. Im Frühjahr 1989 versuchte ich die DDR Richtung Bundesrepublik zu verlassen. Dieser Versuch endete mit meiner Festnahme. Einige Jahrzehnte später erhielt ich von der Behörde des Bundesbeauftragten für die Stasi‑Unterlagen (BStU) Einsicht und Kopien der Akten, in denen die Bezirksverwaltung für Staatssicherheit (BV) Erfurt über meine Person, meine Motive und die Frage, ob ich nach Verbüßung meiner Haftstrafe ausreisen darf, beriet.



Die Dokumente sind ein beklemmendes Zeugnis des allgegenwärtigen Kontrollwillens der Stasi. Sie zeigen auch, wie willkürlich die DDR das Recht auf Freizügigkeit einschränkte. Dieser Beitrag analysiert die Akten, ordnet sie geschichtlich ein und enthält eine vollständige Transkription der Stasi‑Berichte.
Reise‑ und Ausreiserecht in der DDR
Obwohl die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte jedem Menschen das Recht zuschreibt, jedes Land – auch das eigene – zu verlassen (demokratie-statt-diktatur.de), enthielt die DDR‑Verfassung kein entsprechendes Recht. Das Verlassen der DDR wurde strafrechtlich als ungesetzlicher Grenzübertritt (§ 213 StGB/DDR) verfolgt. Die Stasi wertete den Versuch eines Grenzübertritts oder schon entsprechende Vorbereitungen als Straftat und stellte umfangreiche Überwachungen an (demokratie-statt-diktatur.de). Ausreise‑Anträge mussten beim Kreis oder Stadtbezirk gestellt werden, doch es gab kein ordentliches Verwaltungsverfahren. Stattdessen entschied die Stasi, wer gehen durfte; Bescheide wurden nur mündlich ohne Begründung erteilt (zeitklicks.de).
Viele Menschen wollten gehen, weil sie unter der politischen Unfreiheit litten. Sie wollten ihre Meinung äußern und frei reisen (zeitklicks.de). Andere erhofften sich bessere Lebensbedingungen. Trotz der Schikanen stieg die Zahl der Ausreise‑Anträge in den 1980er Jahren stark an: Zwischen dem 30. November 1988 und dem 31. März 1989 stellten 88 789 DDR‑Bürgerinnen und ‑Bürger Anträge, genehmigt wurden davon nur 6 384 (demokratie-statt-diktatur.de). Diese Einschränkungen und die Geheimhaltung der Entscheidungswege führten dazu, dass viele Menschen die DDR ohne Genehmigung verlassen wollten. Wer erwischt wurde, kam als politischer Gefangener in Haft (zeitklicks.de).
Strafnormen
- § 213 StGB/DDR – Ungesetzlicher Grenzübertritt: Der Paragraph bestrafte jeden, der das Gebiet der DDR ohne staatliche Genehmigung verließ, nicht zurückkehrte oder falsche Angaben machte, um eine Genehmigung zu erschleichen. Schon der Versuch und die Vorbereitung galten als strafbar. In schweren Fällen – etwa bei der Beschädigung von Grenzanlagen oder beim wiederholten Fluchtversuch – drohten ein bis fünf Jahre Gefängnis (jugendopposition.de).
- § 220 StGB/DDR – Staatsverleumdung: Als „Staatsverleumdung“ galt jede öffentlich geäußerte Kritik an staatlichen Einrichtungen. Bereits Witze über einen ehrenamtlichen Funktionär konnten zu Haftstrafen von bis zu zwei Jahren führen (jugendopposition.de). Dieser Paragraph wurde genutzt, um auch Ausreise‑Anträge als Herabwürdigung des Staates zu bestrafen (jugendopposition.de).
Diese Gesetze zeigen, wie sehr die DDR Kritik und „Republikflucht“ kriminalisierte. Wer ausreisen wollte, riskierte nicht nur sozialistische Schikanen, sondern auch Freiheitsentzug.
Stasi‑Bericht – Transkription & Analyse
BStU 000112 – „Prüfung von Versagungsgründen“
Der erste Bericht trägt das Datum 10. Juni 1989. Er wurde von der Arbeitsgruppe XIII der BV Erfurt erstellt und hat den Betreff „Prüfung von Versagungsgründen gemäß Dienstanweisung 2/80, Punkt 6.1 des Gen. Ministers – Haftfälle bis 12/89“. Es handelt sich um eine interne Vorlage, in der geprüft wird, ob Gründe vorliegen, mir die Ausreise nach der Haft zu verweigern.
Personaldaten (Originaltext)
Name, Vorname: OBST, Mario
PKZ, geb. in: 230470 4 17933 Erfurt
Anschrift: Erfurt, [Sofioter Str.] 2/0004
Beruf: zuletzt Lehrling für Kleidungsfacharbeiter
Arbeitsstelle: VEB Modellkleidung Erfurt
Familienstand: ledig
Erfassung: In 812/00 Reg.-Nr.: [Schwärzung]
Anschließend hält der Bericht fest, dass gegen mich am Valentinstag, den 14. Februar 1989, ein Ermittlungsverfahren mit Haft nach den Paragraphen 213 Abs. 2 und 4, 220 Abs. 2, 24 Abs. 1 und 83 Abs. 2 StGB eingeleitet wurde. Am 11. April 1989 verurteilte mich das Kreisgericht Erfurt‑Stadt „wegen § 213 i.V.m. § 24 Abs. 1 StGB zu einer Freiheitsstrafe von 1 Jahr und 2 Monaten“. Da ich keine zu versorgenden Angehörigen hatte, musste niemandem meine Ausreise genehmigt werden.
Der Bericht hält weiter fest, dass ich keinen offiziellen Ausreise‑Antrag gestellt hatte, sondern „versuchte, die DDR auf ungesetzliche Weise zu verlassen und entsprechende Vorbereitungshandlungen unternahm“. Trotz der Befragungen hielt ich an der Absicht fest, „mein weiteres Leben in der Bundesrepublik fortzusetzen“.
BStU 000113 – Einschätzung der Gründe
Der zweite Teil des Berichts (Seite 2) untersucht meine Kontakte und Motive:
- Unterstützer im Westen: Das MfS notiert, dass ich bei einem illegalen Grenzübertritt zunächst bei einer Westdeutschen (Name geschwärzt) wohnen wollte, bis ich eine eigene Unterkunft hätte. Wir standen in ständigem Briefkontakt, und sie half mir nachweislich bei der Arbeitsplatzsuche und bestärkte mich moralisch in meinem Ausreise‑Vorhaben.
- Motivation für die Flucht: Der Bericht gibt meine Begründungen wieder:
- Berufliche Perspektiven: Ich sah in der DDR keine Möglichkeiten, mich entsprechend meinen Wünschen beruflich zu entwickeln. Laut Stasi neigte ich zu „illusionären Vorstellungen über berufliche Entfaltungsmöglichkeiten und die Lebensweise im kapitalistischen Ausland“. Diese Formulierung entlarvt den paternalistischen Blick der Stasi auf ausreisewillige Bürger.
- Reise‑ und Freiheitsrechte: Ich fühlte mich in meinen Reisemöglichkeiten stark eingeschränkt. Der Bericht erwähnt, dass ich die Ablehnung von Ausreiseanträgen als willkürlich empfand.
- Militärdienst: Ich hatte mich zu einer 10-jährigen Dienstzeit bei der Nationalen Volksarmee verpflichtet und stand kurz vor der Einberufung. Die Stasi unterstellt, ich wolle mich dieser Verpflichtung mit dem Grenzübertritt entziehen.
- Keine Geheimnisgefährdung: Der Bericht betont, dass ich in keinem volkswirtschaftlich wichtigen Bereich der Forschung oder Entwicklung gearbeitet habe und somit keinen Zugang zu Staatsgeheimnissen hatte. Das MfS geht daher davon aus, dass keine geheimdienstlichen Kenntnisse vorliegen.
- Schlussfolgerung: Die Arbeitsgruppe XIII sieht keine Versagungsgründe für meine Übersiedlung aus der Haft.
BStU 000114 – Entscheidung der Arbeitsgruppe XIII
Der abschließende Vermerk enthält den für mich damals entscheidenden Satz:
„Durch unsere Diensteinheit wird einer Ausreise in die BRD aus der Haft zugestimmt.“
Es wird angeordnet, mich nach der Ausreise in die westdeutsche Bundesrepublik in die „Reisesperre“ der Arbeitsgruppe XIII aufzunehmen. Mit anderen Worten: Nachdem die Stasi meiner Übersiedlung zugestimmt hatte, ließ sie gleichzeitig verzeichnen, dass ich künftig nicht wieder legal in die DDR einreisen sollte.
Der Vermerk ist von einem Oberleutnant, dem Leiter der Arbeitsgruppe XIII, unterschrieben und trägt eine handschriftliche Notiz mit Datum 21. Juni 1989.
Häftlingsfreikauf
Die Entscheidung, politische Gefangene oder Personen wie mich nach der Haft ausreisen zu lassen, war nicht immer humanitär motiviert. Seit Ende 1963 kaufte die Bundesrepublik politische Häftlinge aus der DDR frei. Zwischen 1963 und 1989 wurden 33 755 politische Gefangene in den Westen gebracht. Die DDR erhielt dafür anfangs durchschnittlich 40 000 DM pro Person, später bis zu 100 000 DM (zeitklicks.de). Insgesamt flossen durch den Häftlingsfreikauf rund 3,4 Milliarden DM in die klammen Kassen der DDR (zeitklicks.de).
Die Freikäufe geschahen im Geheimen und wurden von Rechtsanwalt Wolfgang Vogel auf DDR‑Seite ausgehandelt. Die Transporte erfolgten mit Bussen, die während der Fahrt per Knopfdruck, wie in einem „James Bond Film“, von ostdeutschen auf westdeutsche Kennzeichen umschalteten (zeitklicks.de).
Einordnung und persönliche Reflexion
Die hier wiedergegebenen Stasi‑Akten zeigen das spannungsreiche Zusammenspiel von Staatsmacht, ideologischer Kontrolle und individuellem Freiheitsstreben. Selbst der Wunsch eines jungen, unverheirateten Arbeiters, das Land zu verlassen, löste eine detaillierte Untersuchung aus. Die Stasi wollte wissen, wer mich im Westen empfängt, wie meine Einstellung zur DDR ist, ob ich „illusionären Vorstellungen“ unterliege und ob ich über Geheimnisse verfüge. Dabei nutzte sie die Straftatbestände Ungesetzlicher Grenzübertritt und Staatsverleumdung, um meinen Ausreiseversuch zu kriminalisieren. In der DDR konnte bereits ein herabwürdigender Brief als Staatsverleumdung gewertet werden (jugendopposition.de), und ein Fluchtversuch wurde mit bis zu fünf Jahren Haft bedroht (jugendopposition.de).
Dennoch stieg die Zahl der Ausreise‑Willigen gegen Ende der 1980er Jahre stark an. Der Stasi war diese Entwicklung bewusst; sie registrierte 88 789 Anträge in den vier Monaten vor dem März 1989 und genehmigte nur 6 384 (demokratie-statt-diktatur.de). Dass mir die Ausreise schließlich erlaubt wurde, lag wahrscheinlich weniger an der Einsicht der Behörden als an der allgemeinen politischen Lage im Sommer 1989. Unter dem Druck der Massenfluchten über Ungarn und Prag und angesichts der wirtschaftlichen Not nutzte die DDR das „Ventil“ der kontrollierten Ausreise. Der Reisesperren‑Vermerk zeigt aber, dass selbst die Erteilung eines Ausreisevisums nichts mit Freizügigkeit zu tun hatte: Sie diente der endgültigen Ausbürgerung.
Heute, mehr als 35 Jahre später, lese ich die Stasi‑Berichte mit gemischten Gefühlen. Sie machen das Gefühl der Bevormundung, meine unterschlagene Meinungsfreiheit und die allgegenwärtigen Überwachung noch einmal lebendig. Gleichzeitig erinnern sie mich daran, wie stark der Wunsch nach Freiheit war – und dass es sich gelohnt hat, ihn nicht aufzugeben.